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Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.06.06

Das Leben stellt die Requisiten

Von Andreas Rosenfelder

 
Wo Bienenzüchter und Tanzlehrerin ihr eigenes Drehbuch mitbringen:
Das Festival des deutschen Films in Ludwigshafen


Das Drehbuch führt ein zwiespältiges Dasein im deutschen Autorenkino der Gegenwart. Immer öfter pfeffern die Regisseure jene dicken Papierkonvolute, die sie als stolze Autorenfilmer in der Regel selbst verfaßt haben, im entscheidenden Moment in die Ecke. Der Trend zur Improvisation zeichnet jenen deutschen Neorealismus aus, der auch auf dem nun zum zweiten Mal in Ludwigshafen ausgerichteten Festival des deutschen Films den Ton angab. Statt auf ein vorgefertigtes Skript zu setzen, vertraut man zunehmend auf das Gespür der Schauspieler. Sie entscheiden nicht allein, welche Worte fallen, sondern oft sogar, wie die Geschichte ausgeht.

So spürte der atemberaubende Jürgen Vogel in Matthias Glasners "Der freie Wille" (F.A.Z. vom 14. Februar) gegen Ende der Dreharbeiten, daß seinem Charakter Theo, einem auf Bewährung entlassenen Serienvergewaltiger, auf Erden nicht zu helfen ist - und wählte für seine Figur den Freitod. Und die ebenfalls famose Sabine Timoteo in der Rolle seiner Freundin beschloß erst während der Aufnahme der letzten Szene, bei Theos Selbstmord am belgischen Strand nicht fortzulaufen, sondern an der Seite des Verblutenden zu verharren.

Auch Valeska Grisebachs Liebestragödie "Sehnsucht" (F.A.Z. vom 16. Februar) bezieht einen Teil ihrer Faszination aus den halbdokumentarischen Dorfszenen, aufgenommen auf Feuerwehrfesten und bei Kaffeekränzchen. Vanessa Jopps "Komm näher" schließlich (F.A.Z. vom 16. Februar) läßt der Spontaneität der lose vernetzten Berliner Charaktere in den Dialogen großen Freiraum, auch wenn das Handlungsgerüst eine eisenharte Konstruktion ist.

Doch auch jenseits dieser Filme, die bereits auf der Berlinale die Aufmerksamkeit auf sich zogen und sicher Favoriten im Rennen um den mit fünfzigtausend Euro dotierten Filmkunstpreis sind, eröffnete das Festival eigene Perspektiven. Genau jene dörfliche Welt des Ostens, die in "Sehnsucht" die Kulissen einer todtraurigen Dreiecksgeschichte bildet, dient in Olaf Winklers und Dirk Heths Dokumentarfilm "Eggesin möglicherweise" als Hauptschauplatz. Bewaffnet mit poppiger Montage-Ästhetik und viel Doku-Material aus alten NVA-Archiven, nähert sich der Film dem abgewickelten Bundeswehrstandort Eggesin in Brandenburg - und entdeckt dort den Bienenzüchter, die Wahrsagerin, den Gastwirt oder die Tanzlehrerin als Filmcharaktere, die ihr eigenes Drehbuch mitbringen. Störend und fehl am Platz wirkt nur die empfindsame Briefform, in welche die Autoren den Kommentar aus dem Off packen.

Die Stimme des Poeten

Die vielleicht größte Entdeckung unter den zwölf Wettbewerbsfilmen war Harald Bergmanns Spielfilm "Brinkmanns Zorn", der auf ein Drehbuch verzichtet - denn er überläßt die Tonspur ganz jenen Tonbändern, welche der Kölner Beat-Literat Rolf Dieter Brinkmann 1973 und 1975 bei seinen Streifzügen durch die verhaßte Wahlheimat und die Mietwohnung in der Engelbertstraße vollsprach. Mit unglaublicher Präzision bewegt Hauptdarsteller Eckhard Rhode seine Lippen synchron zu Brinkmanns frei schweifender Rede, und man vergißt nicht selten, daß hier tatsächlich der Poet dem Schauspieler seine Stimme leiht und nicht andersherum.

"Brinkmanns Zorn" ist ein Meisterwerk an Genauigkeit und Stimmigkeit - was vielleicht die einzige Form darstellt, dem anarchischen und arbeitswütigen Dichter auf die Schliche zu kommen. Die Intensität des Films verdankt sich nicht nur der unheimlichen Echtheit der Tonspur, auf der auch die Heullaute des sprachbehinderten Sohns und die bekifften Sprüche später Partygäste gespeichert sind. Jedes aufgezeichnete Klirren ist auch im Bild zu sehen - und wenn der Dichter ein "Texaco- Fähnchen" oder eine "erloschene Stifts-Pils-Reklame" benennt, dann tauchen diese vom Leben längst ausgemusterten Requisiten wie selbstverständlich im Kölner Straßenbild auf, das ohnehin noch stark nach den Siebzigern aussieht. Doch der in Super-8- Optik gehaltene Film verrät auch viel über jene Zeitspanne, in welcher Rolf Dieter Brinkmann mit seiner Frau Maleen (Alexandra Finder) und dem sprachbehinderten Sohn Robert (Martin Kurz) erfolglos ein kleines Familienleben zu führen versuchte, bevor er am 23. April 1975 in London unter die Räder eines Autos kam.

Allerdings führt der Verzicht auf ein klassisches Drehbuch nicht immer zu überraschenden Lösungen. "Swinger Club" von Jan Georg Schütte zum Beispiel ist ein reiner Improvisationsfilm - die drei Schauspielerinnen und vier Schauspieler, die hier in einem Haus an der Nordsee aufeinandertreffen, wurden vom Regisseur lediglich mit Biographien ausgestattet. Mit den sexuellen Querverbindungen, die im Verlauf des Treffens nach dem Vorbild von Doris Dörries "Nackt" ans Licht kommen, baut sich am Anfang noch eine unterschwellige Spannung auf. Irgendwann kippt der Film leider um und erinnert fatal ans Wochenendseminar einer Schauspielschule: Nicht nur das Durcheinanderplappern auf dem übervölkerten Soundtrack, sondern auch die Häufung schriller Enthüllungen läßt am Ende alles in eine überkandidelte Sitcom münden.

Am Gegenpol zur neorealistischen Authentizität siedelten sich in Ludwigshafen eine Reihe streng durchkomponierter Spielfilme an. Didi Danquarts Eröffnungsfilm "Off Set" spielt in einer Druckerei in Bukarest und handelt von der Sekretärin Brindusa (Alexandra Maria Lara), die sich als Geliebte ihres rumänischen Chefs in einen jungen deutschen Techniker verliebt, der die neue Offsetmaschine einrichten soll. Die Story klingt klischeehafter, als sie auf der Leinwand ausfällt - denn das westöstliche Machtgefälle zwischen dem kindsköpfigen, aber kraftstrotzenden Patriarchen und dem scheuen Ingenieur verläuft ganz gegen die Erwartung des Publikums. So verweigert der Film, streckenweise fast eine Commedia dell'arte, die in kulturüberspannenden Beziehungskomödien fast verpflichtende Versöhnung. Auf seine Weise erzählt "Off Set" genauso vom Scheitern einer Integration wie Yilmaz Arslans in ihrer brutalen Hoffnungslosigkeit fast erhabene Einwanderertragödie "Brudermord" (F.A.Z. vom 27. März), die in den Kinos trotz aller Debatten um Ehrenmorde und Parallelgesellschaften kaum Beachtung fand.

Die Lehren des Vertreters

Den Versuch eines filmischen Kunstmärchens stellt Bülent Akincis Spielfilmdebüt "Der Lebensversicherer" dar, ein mit französischen Le-Pop-Chansons unterlegtes und mit philosophischen Sätzen gepflastertes Roadmovie über einen zerknautschten Versicherungsvertreter (Jens Harzer), der sich als einsamer Autobahnwolf in eine hübsche Pensionswirtin (Marina Galic) verliebt, die seine Vorliebe für französische Chansons und philosophische Sätze teilt. Der Film setzt auf eine poetische Aura, die sich aber partout nicht einstellt. Da ist dann Dietrich Brüggemanns "Neun Szenen" als erfrischende Adoleszenzkomödie die überzeugendere Übung im Genrekino.

Der Film, der in der Provinz ein paar Turbulenzen des Abiturjahrgangs 2005 verfolgt, besticht nicht nur durch sein bis ins kleinste Detail urkomisches Drehbuch -, sondern auch, weil er zur Abwechslung einmal ganz auf wackelnde Handkameras verzichtet und statt dessen fast jede Szene aus einem festen Blickwinkel ohne Schnitte einfängt. Manchmal liegt die Kunst eben in der offenen Künstlichkeit.